Endlich ist es soweit: ArtSpace-Time! Das zweite Septemberwochenende steht in Bremerhaven ganz im Zeichen der Kunst und Kultur. Bremerhavens Szenemeile, bekannt als „Die Alte Bürger“, lädt auch dieses Jahr wieder zum Kunstgucken und -erleben ein. Hierfür öffnen leerstehende Gebäude, bestehende Kunststätten, Cafés und Geschäfte ihre Türen, Fenster und Hinterhöfe. Keine Selbstverständlichkeit in Corona-Zeiten.
Als Lotsin unterwegs
Ich bin mit allem ausgerüstet, was man für einen Besuch auf der KunstRaum/ArtSpace 2020 braucht: einem Regenschirm, einer Kamera, einer Maske, großer Schaulust und enormem Kunsthunger. Endlich wieder Kunstgucken im öffentlichen Raum, im Hier und Jetzt und nicht alleine vorm Bildschirm! Ich bin dieses Wochenende nicht nur als Besucherin unterwegs, sondern auch Teil des Lotsenteams, welches den Besucher*innen Orientierung bietet, bei Fragen weiterhilft und auf das Einhalten des Hygienekonzepts achtet. Im Vorfeld etwas zögerlich, wie dieser Dienst wohl ablaufen wird, fühle ich mich schnell pudelwohl in meiner Funktion. Ich bekomme Einblicke hinter die Kulissen und habe viele herzliche und inspirierende Gespräche mit allen Beteiligten der ArtSpace, die doch weit über das „Bitte tragen Sie sich in die Kontaktliste ein“ und „Maske nicht vergessen“ hinausgehen.
Eine Entdeckungsreise
Doch bevor ich mich an meinen Lotsentisch begebe, bin ich als Besucherin unterwegs. Ich halte den Übersichtsplan der Veranstaltungsorte in der Hand und weiß gar nicht so recht, wo ich anfangen soll. So vielfältig ist das Programm, so viele verschiedene Kunstformen und Künstler*innen gibt es zu sehen. Eine Liste mit allen „Gästen“, wie die teilnehmenden Künstler*innen liebevoll genannt werden, befindet sich auf der Rückseite des Flyers. Insgesamt nehmen 33 Künstler*innen und Kollektive aus ganz Deutschland an der ArtSpace teil. Davon kommt ein Großteil aus der Region (Bremerhaven/Bremen) und aus Berlin. Wo welche Künstler*innen und welche Kunstform zu sehen sind, verrät mir der Plan nicht. Dies ist jedoch pure Absicht und ein bewährtes Konzept: Eine Einladung, die ArtSpace als künstlerische Expedition zu betrachten und bei jedem Veranstaltungsort neugierig zu bleiben. „Eine Entdeckungsreise. Ganz einfach“, bringt es Robert Worden augenzwinkernd auf den Punkt.
Von Las Vegas nach Bremerhaven
Robert Worden hat die ArtSpace vor drei Jahren ins Leben gerufen. Er hat das Konzept aus einem heruntergekommenen, aber sehr kreativen Stadtteil Las Vegas‘ nach Bremerhaven gebracht, um die Leerstände der Alten Bürger zu bespielen. Dabei ist es ihm ein wichtiges Anliegen, Künstler*innen aus ganz Deutschland nach Bremerhaven einzuladen und mit der bestehenden Kunst- und Kulturszene zu vernetzen, diese weiter auszubauen. Es ist also nicht nur ein Festival für Kunstinteressierte, sondern auch für die Kunstschaffenden selbst. Viele der teilnehmenden Künstler*innen sind begeistert von den kreativen Freiräumen, die Bremerhaven zu bieten hat.
Das ArtSpace-Team
Robert Worden bildet zusammen mit seiner Kollegin aus dem Kulturbüro Bremerhaven, Marie Garms, dem Quartiersmeister Jens Rillke, Annika Jaeger vom Kulturamt Bremerhaven, Karin Fröhling von „Druck-Art“ und Jochen Hertrampf, ehemaliger Leiter des Kulturbüros und soziokulturelles Urgestein der Stadt, das engagierte Organisationsteam. Auch Swantje Schäfer, Bundesfreiwillige im Kulturamt, ist mit vollem Einsatz bei der ArtSpace dabei.
Viele Menschen, weit über die Stadtgrenzen Bremerhavens hinaus, lassen sich an diesem Wochenende auf die Entdeckungstour ein. Die ArtSpace wird sehr gut besucht, was man auf den ersten Blick nicht unbedingt merkt, da sich die Menschen über die vielen Veranstaltungsorte und über die Zeit gut verteilen. Die Atmosphäre ist dynamisch, fröhlich und entspannt. Auch meinen Regenschirm packe ich an diesem Wochenende nur einmal aus, ansonsten ist das Wetter gut und fast schon spätsommerlich.
Zwischen Wolkenkuckucksheim und Unkraut
Einen richtigen Startpunkt gibt es auf der ArtSpace nicht und so fange ich in der 218 an, einem leerstehenden Gebäude, in dem die Besucher*innen über drei Etagen Kunst anschauen können. Am Eingang werde ich von meinen Lotsenkolleg*innen begrüßt. Maske auf und los geht’s, es gibt ja schließlich noch so viel zu sehen: Großformatige Fotos von buntbehangenen Bauzäunen im Hinterhof von Kornelia Kirschner-Liss und aus den Wänden herauswucherndes Unkraut, eine Installation von Jana Thiel, stehen im Kontrast zu filigranen „Wolkenkuckucksheimen“. Dies sind Metalldrahtgebilde von Gunter Wagner, die Federn oder Stahlwolle zum Schweben bringen und mich gleich mit.
Wieder im Erdgeschoss angelangt, schlägt mich und das gesamte Publikum die Tanzperformance „Tetra“ von Kira Metzler, Giulia Decherchi, Noi und Aconite in ihren Bann. Ich betrete einen komplett abgedunkelten Raum und sehe zwei Körper in einem immer schneller werdenden Bewegungsspiel von Distanz und Nähe. Vor ihnen eine transparente Leinwand, auf die vorherige Bewegungssequenzen pixelartig projiziert werden. Meine Worte reichen hier nicht aus, die Performance zu beschreiben. Ging die Performance wirklich nur eine halbe Stunde? Ich bin im ArtSpace-Rausch.
Viele Ausstellungsorte auf der ArtSpace
Aber auch die anderen Ausstellungsorte haben viel zu bieten: An den Wänden eines ehemaligen Friseursalons tönt aus den farbenfroh bestickten und selbstgebauten Lautsprechern von Yvonne Dicketmüller Popmusik. An einem anderen Ort kann man große Holzmasken, angefertigt aus einem Eschestamm von Reiner Madena, bestaunen und gleichzeitig sich selbst in den vielen Spiegeln sehen.
„The Artist ist present“
Auch Alex Bodeas kleine und feine „Visual notes“, eine Seitenstraße weiter, sprechen mich sehr an. In nahezu einer Linie erfasst sie den Kern von Stimmungen und Alltagsszenen, die sie auf Berlins Straßen beobachtet. Wir kommen ins Gespräch über ein Bild mit dem Titel „walking on socks“ und sie erzählt mir die Geschichte von einem Bauarbeiter, der aufgrund des neugelegten Bodens seine Schuhe ausziehen musste. „The Artist ist present“ – auf der ArtSpace überall. Die Gespräche mit den Künstler*innen sind viel wert – der zugewandte, interessierte und direkte Kontakt eine Besonderheit der ArtSpace.
Eine weitere Notiz trägt den Titel „Procrastination“. Aufschieben will ich auf der ArtSpace aber nichts, viel mehr will ich alles gleichzeitig sehen und hören. Und so bleibe ich keine paar Meter weiter vor dem Café Taverne stehen und lausche der Live-Musik, die aus einem aufgespannten goldenen Zelt kommt. Befinden sich die Musiker*innen tatsächlich samt aller Instrumente in diesem kleinen Zelt?
Eine Straße tanzt
Die ArtSpace ist tatsächlich eine große Entdeckungsreise quer durch alle Kunstsparten und -formen und ich werde dieses Wochenende immer wieder aufs Neue überrascht. Zum Beispiel wenn für einen kurzen Moment die Bürgermeister-Smidt-Straße abgesperrt wird und weit über 50 Menschen in eleganter Kleidung eine bekannte Choreographie von Pina Bausch tanzen. Die Tänzerin und Choreographin Claudia Hanfgarn hat im Rahmen einer größeren Aktion der Pina-Bausch-Stiftung hierzu aufgerufen. Spontanes Mittanzen ausdrücklich erwünscht. Oder wenn plötzlich Marco Jodes neben dir auf dem Bürgersteig zu tanzen beginnt und Stefanie Manhillen seine Bewegungen und die Zuschauenden mit Spraydose und Zeichenkohle in Windeseile auf Papier malt. Ich weiß gar nicht, wo ich hinschauen soll, so spannend ist der Dialog zwischen Malerin und Tänzer.
Endlich wieder Kunst
Ein Grundgefühl auf der Artspace ist allgegenwärtig. Alle sind unendlich froh, dass endlich wieder ein Kunstfestival im öffentlichen Raum stattfindet, und das bei freiem Eintritt und ohne Voranmeldung. Nur um Spenden wird charmant mit den klingenden Spendenboxen gebeten. Für einen Großteil der Künstler*innen ist es die erste Ausstellungsmöglichkeit seit dem Lockdown Mitte März, erzählt mir Marie Garms. „Dankeschön“ ist ein häufig gehörtes Wort von Besucher*innen und Künstler*innen gleichermaßen. Gegenseitige Wertschätzung ist eine wichtige Währung auf der ArtSpace. So wundert es mich überhaupt nicht, dass das Organisationsteam zum Abschluss von einem Kunstort zum nächsten zieht und allen „Gästen“ applaudiert. Ein Ritual der ArtSpace, wie ich erfahre. Auch das Lotsenteam wird beklatscht – ich finde es super.
Bis zur nächsten ArtSpace
Auf alle Kunsträume und Künstler*innen kann ich in diesem Logbucheintrag leider nicht eingehen, zu groß und zu vielfältig ist das Angebot und würde mindestens ein paar weitere Logbuch-Artikel erfordern. Wie schön, dass es die ArtSpace im nächsten Jahr wieder gibt. Einen Besuch im kommenden Jahr kann ich wirklich allen ans Herz legen: ob Kunstkenner*in oder Neuling, ob aus Bremerhaven oder von weit angereist. Entdeckungsreise garantiert!
Geschrieben von Saskia Mosler
Schreibe einen Kommentar