Das Theater gibt es seit jenen Zeiten, in denen Glaube – und Aberglaube – die Menschen stark bestimmten. Denn das Theater ist eines der ältesten kulturellen Einrichtungen der Welt. Allein das Stadttheater Bremerhaven hat 154 Jahre auf dem Buckel. In manchen Lebensbereichen haben wir die Höhle bis heute ja noch nicht verlassen, aber in „2.0 Zeiten“ stellt sich mir die Frage: Ist der Geist moderner Theatermenschen des 21. Jahrhunderts noch von Aberglaube geprägt? Wieviel ist übrig geblieben von dem Ausruf „Oh, mein Gott, das bringt Unglück!“? Da am Stadttheater Bremerhaven ein kunterbuntes Völkchen werkelt, lerne ich schnell: Andere Länder, andere Aberglaube-Sitten.
ToiToiToi versus merda
Das Allerallerallerwichtigste zuerst – und ich schreibe das gerade mit einem lang gestreckten, erhobenen Zeigefinger: Niemals jemandem vor einer Aufführung „Viel Glück“ wünschen. Niemals. In allen deutschsprachigen Theatern heißt es: „ToiToiToi“. Das dreimalige Wiederholen ist eine Art Formel gegen den Neid der bösen Geister. In Brasilien, so erklären mir Musiktheater-Regieassistent Edison Vigil und Tänzer Renan Carvalho de Oliveira, heißt es „Merda“ oder „grande merda“. Wirklich? Scheiße sagt man nicht, platzt es der vierjährigen Ilka heraus. Beide lachen und erklären mir, dass der Ursprung dieses Brauches im 19. Jahrhundert liegt, als wohlhabende Besucher*innen mit Pferd und Wagen vor das Theater fuhren. Alle weniger Betuchten mussten auf ihrem Weg zum Theater einen Pferdeäpfel-Spießroutenlauf veranstalten. Je mehr „merda“ also an den Schuhsohlen ins Haus geschleppt wurde, desto mehr Besucher*innen waren in der Vorstellung. Und es gibt doch nichts Schöneres als ein voller Großer Saal!
Die gute Kinderstube für die schwarze Katz‘
Wenn mir eine Regel aus Kindertagen in Fleisch und Blut übergegangen ist, dann ist es mich stets zu bedanken. Nun, am Theater kann und muss ich sogar meine gute Kinderstube in einem Ausnahmemoment vergessen: Auf „ToiToiToi“ folgt niemals „Danke“. Niemals. Egal, bei wem ich im Stadttheater zu diesem Thema nachfrage, alle, ausnahmslos alle, egal ob vom Ensemble, aus dem Orchester oder den Werkstätten, rufen: „Oh, nein, das bringt Unglück!“. In der Abteilung für Marketing und Öffentlichkeitsarbeit steht zum Glück viel öfter das „ToiToiToi“-Sagen an. Bekomme ich wider Erwarten doch auch ein „ToiToiToi“ gewünscht, dann antworte ich: „Hals- und Beinbruch“ (von jiddisch „hasloche un‘ broche“ – Glück und Segen) oder „Wird schon schief gehen“.
Applaus nach der Generalprobe? Kein Glück für die Premiere!
Als ich am Theater meine erste Generalprobe zu Chicago erleben darf, bin ich am Ende irritiert. Da geben sich alle so viel Mühe und niemand honoriert das? Ich will meine Hände zu einem wiederkehrenden lauten Klatschen zusammenführen, denke mir jedoch intuitiv: Nee, lass ma lieber. Puh, auf mein Bauchgefühl ist Verlass – denn Klatschen nach der Generalprobe bringt so dermaßen Unglück und ist ein absolutes No-Go. Doch ich merke, bei diesem Aberglaube scheiden sich die Geister. „Ich finde es ganz in Ordnung, wenn nach der Generalprobe geklatscht wird. Warum nicht?“, meint Kapellmeister und Studienleiter Hartmut Brüsch. Sängerin Patrizia Häusermann hingegen bereitet das Klatschen nach einer Generalprobe körperliche Schmerzen. „Ich weiß, ich wirke dann auf die Kolleg*innen immer einen Hauch hysterisch, wenn ich rufe: „Bitte nicht klatschen“. Ich bin sonst nicht abergläubisch, außer in diesem einen Moment.“ Klatschen bedeutet, dass etwas gut ist. Eine Generalprobe jedoch muss schief gehen. Damit die Premiere top wird.
Bloß nicht pfeifen – ein Verbot mit Geschichte
Egal, welche Nationalität, eine der ersten Antworten die ich zu Mythen, Marotten und Co. bekomme, lautet: „Laufe nie pfeifend durchs Theater!“. Nun, ich heiße nicht Ilse Werner und bin die größte Pfeife Deutschlands, aber ein gut gepfiffenes Lied tut keinem weh. Zeugt es von frohen Mutes. Ein, wie ich finde, gerade zur Zeit wertvoller Gemütszustand. Der Ursprung dieses Brauches hat einen realen Grund in der Vergangenheit. Es gibt zwei Erklärungen. Erstens: Die Theater wurden früher mit Gaslampen beleuchtet. Hörte jemand ein Pfeifen, dann bedeutete das, eine Gasleitung leckte und das wiederum hieß: Feuergefahr. Wehe dem, der mit einem Tinnitus durchs Theater lief. Zweitens: Früher haben in der Regel Matrosen oben im Schnürboden gearbeitet, denn sie wussten in großen Höhen mit Seilen zu arbeiten. Die Seeleute haben sich ihre Arbeitsbefehle jedoch nicht zugebrüllt, sondern zugepfiffen. Lief also jemand pfeifend über die Bühne, störte das die Kommunikation und es konnte mit einem Prospekt (hier die Erklärung für Prospekt) auf dem Kopf enden.
Keine Handarbeit auf der Bühne, bitte
Grundsätzlich gilt: Safety first auf der Theaterbühne. Und Nadeln bergen von Natur aus Pieks-Gefahr. Hinter dem Handarbeitswerkzeug verbirgt sich aber ein weiterer Unheilsbringer: Die Schicksals-Göttinnen können ein Netz stricken, in dem sich dann die gesamte Produktion verfängt. „Ha“, entgegnet mir sofort Schauspielerin Isabel Zeumer. „In Robin Hood hat das Wildschwein Gundula gestrickt. Und ich als Lady McMean wurde später prompt in einem Netz gefangen!“. An diesem Zauber scheint wohl etwas Wahres dran zu sein…
Grün, grün, grün sind keine Kostümkleider
Ich stoße auf einen Aberglaube aus der Dekorations- und Kostümabteilung: Verwende niemals grüne Stoffe. Grün ist die Farbe des Teufels. Ein waschechter Mythos aus dem Mittelalter. Da stellten sich die Menschen den Teufel in einem grünen Rock vor. Nun ja, heutzutage trägt der Teufel ja bekanntlich Prada. Ich wähle die Nummer unserer Leiterin der Kostümabteilung, Viola Schütze. Sie kann mir bestimmt mehr dazu sagen.
Theater-Schuhe gehören nicht auf den Tisch
Stille am anderen Ende der Leitung. „Nö, noch nie davon gehört“, sagt Viola. Sie habe mit dem ganzen Aberglauben-Zinnober eh nichts am Hut. „Außer – PAUSE – außer, es stehen Schuhe auf dem Tisch. Das irritiert mich – und ich muss sie vom Tisch nehmen.“ Aha, doch abergläubisch? Nein, auch hierfür gibt es eine lebensfeste Erklärung aus vergangenen Zeiten. Meist starben Menschen früher zu Hause. Die Toten wurden dann auf dem Tisch aufgebahrt und angezogen. Kam jemand in ein Haus und sah Schuhe auf dem Tisch stehen wusste er/sie sofort: Hier ist jemand gestorben. Dieses diffuse, ungute Gefühl möchte Viola nun wirklich nicht vermitteln, wenn jemand ihre Räume betritt.
Sage niemals „Macbeth“
Zugegeben, das ist kein Mythos aus dem deutschsprachigen, sondern dem englischsprachigen Raum. Doch unser Ensemble ist so international, dass ich diesem Aberglaube kurz nachgehen kann, ohne einen langen Weg zurücklegen zu müssen. Ich kralle mir Tenor MacKenzie Gallinger. Er ist gebürtiger Kanadier und müsste das doch wissen. Bingo. „Jip, that’s right. Never ever sage „Macbeth“ an einem Theater in England oder Nordamerika.“ Er selbst habe einmal am Gryphon Theatre in Canada das Stück beim Namen genannt. Ein Kollege habe ihn sofort zu drei Rettungsrunden ums Haus gezwungen (siehe nächster Absatz). Diese angelsächsische Angst liegt zum einen darin begründet, dass seit der Uraufführung von Shakespeares Stück vieles schief ging: Schauspieler*innen sterben kurz vor der Premiere oder während der Vorstellung oder stürzen über die Bühnenkante in die Tiefe, Requisitendolche werden mit echten verwechselt und und und… Außerdem läuft der/die „Macbeth“- Sagende Gefahr, die drei Hexen aus dem gleichnamigen Stück heraufzubeschwören. Ich hoffe, der Fluch gilt nur für das Sagen, nicht für das Schreiben…
Körperliche Ertüchtigung – ein wirksamer Gegenzauber
Kuss gegen vergifteten Apfel, Name gegen Königskind – für jeden Zauber gibt es einen Gegenzauber. Nicht nur im Märchen, sondern auch im Theater. Ich kann den „Macbeth“-Fluch also neutralisieren. Wie? Indem ich aus dem Büro und dreimal ums Theater renne. Will ich ganz sicher gehen, spucke ich noch aus und rufe ein Schimpfwort. Auf geht’s. Ich erhebe mich von meinem Schreibtisch – ist eh nicht gut, so lange zu sitzen – und stürze die Treppen runter. Dabei schlage ich gleich zwei Fliegen mit einer Klappe: Ich wende das Unglück ab und bekomme heute noch meine 10.000 Schritte zusammen.
Spukt’s oder spukt’s nicht – das ist die letzte Frage
Wenn wir im Marketing allmonatlich des nachts im Büro hocken, um die Programmhefte druckfertig zu stellen, dann knarkst und knackt es verdächtig im Gebälk. Meiner Meinung nach schreit Aberglaube auch förmlich nach einem Theatergeist. Ich nehme all meinen Mut zusammen, und mache mich mit Fotoapparat in den Katakomben des Theaters auf die Suche. Fehlanzeige. Auch meine Kolleg*innen können von keinem Stadttheater-Spukgespenst berichten. Opernchor-Sängerin Lilian Giovanini, gebürtige Brasilianerin, erzählt mir an dieser Stelle: „Aber in Brasilien, und auch in England, ist es Brauch, nach jeder Vorstellung ein kleines Arbeitslicht in die Mitte der Bühne zu stellen. Das weist dem Theatergeist den Weg.“
Die Wandlung von Aberglaube in Tradition
Es gibt auch heute noch Aberglaube am Theater. Einigen dient er dazu, Unglück abzuwenden. Doch viele abergläubische Regeln haben ihren Ursprung in lebensnahen Situationen vergangener Zeiten. Viele abergläubische Regeln haben sich im Laufe der Jahrhunderte in Bräuche und Traditionen gewandelt. Und Traditionen sorgen für ein Gemeinschaftsgefühl, für einen besseren Umgang miteinander. Mir bleibt zum Schluss nur noch eines zu tun: Ein LED-Lichtlein für Thalia, die Beschützerin aller Spielstätten, aufzustellen. Auf dass die Bühnen dieser Welt, insbesondere aber die Bühnen des Stadttheaters Bremerhaven, recht bald wieder bespielt werden.
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