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Latein-Formation in Perfektion

Vor einem halben Jahrhundert, am 21. Januar 1971, wurde die TSG Bremerhaven (Tanzsportgemeinschaft) gegründet. Ich selbst kam 1985 damit in Berührung und bin seitdem begeistert […]

Tanja mit ausgebreiteten Armen vor der Weser
18. Jan. 2021
8 min Lesezeit
Tänzerinnen und Tänzer der TSG-Formation auf dem Parkett (c) Lothar Scheschonka

Vor einem halben Jahrhundert, am 21. Januar 1971, wurde die TSG Bremerhaven (Tanzsportgemeinschaft) gegründet. Ich selbst kam 1985 damit in Berührung und bin seitdem begeistert von den Leistungen der Tänzer*innen! Der Schwerpunkt liegt bei der TSG auf der Latein-Formation. Aber auch Latein- und Standard-Einzel sowie Jazz, Modern Dance und Breitensport finden hier statt. Seit der Gründung entwickelt sie sich zu einer regelrechten Kaderschmiede. Die Bilanz der Lateinformation kann sich sehen lassen. Mit 19 Deutschen Meister-, 10 Europameister- und 14 Weltmeistertiteln ist sie in das Guiness-Buch der Rekorde aufgenommen worden.

Zwei Füße können doch nicht so schwierig zu ordnen sein

Doch was auf dem Parkett so leichtfüßig und einfach aussieht, erfordert hartes Training, Disziplin und extreme Ausdauer. Habt ihr schon einmal eine Tanzstunde mitgemacht und frustriert festgestellt: „Das lerne ich nie!“? Bei allem Spaß an der Musik und dem Tanz ist es mir wiederholt so ergangen. Einmal läuft es gut und ein anderes Mal bekomme ich meine Füße trotz Anleitung nicht geordnet. Ganz zu schweigen davon, dass mein Partner und ich oft nicht die gleiche Schrittgröße, Arm- und Kopfhaltung haben. Wie kann es da einer Formation gelingen, es so wirken lassen, als wenn acht Paare, 16 Frauen und Männer, aus einem Guss zu sein scheinen?

Tanzlehrer Horst Beer beim Training mit der Formation (c) Lothar Scheschonka
Blick ins Archiv: Horst Beer mit der Formation beim Training (c) Lothar Scheschonka

Perfektion: Erfolg über Erfolg vom Einzel bis zur Formation

Andrea, geborene Lankenau, und Horst Beer, von der gleichnamigen Tanzschule Beer, tanzten selbst außerordentlich erfolgreich und erfanden sogar eine eigene Drehung.

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Die Eigenkreation von Andrea Lankenau und Horst Beer im Video

Ganz „nebenbei“ fungierten die beiden auch noch als Tanzlehrer*in. Wie sie das zeitlich schafften, ist mir bis heute ein Rätsel. Als Einzelpaar wurden sie von 1981 bis 1986 sechsmal in Folge die Deutschen Meister in lateinamerikanischen Tänzen und zweimal in der Kombination (zehn Tänze aus Latein und Standard). 1985 wurden sie Europameister Latein und Weltmeister Latein der Amateure. Wenn ihr nochmal reinschauen mögt: Die Weltmeisterschaft 1985 im Video.

Anschließend wechselten sie zu den Professionals. Horst Beer war außerdem Tänzer der TSG Formation und ab 1984 auch deren Trainer sowie Bundestrainer Latein. Und welchen Anspruch er an seine Formation hat, das habe ich indirekt miterleben dürfen.

Siegerehrung bei der WM 1985 (c) Lothar Scheschonka
Andrea und Horst Beer haben es geschafft – 1985 holen sie den Weltmeistertitel (c) Lothar Scheschonka

Die Latein-Formation als Familie

Mit mir zusammen absolvierte seinerzeit auch Sylvia die Ausbildung zur Verlagskauffrau bei der Nordsee-Zeitung. Wir lernten uns kennen und freundeten uns an. Sylvia tanzte in der A-Formation und so kam ich mit dem Tanzsport in Berührung. Sylvia liebte und lebte die Latein-Formation. Neben dem Beruf war das ganze Leben auf den Sport ausgerichtet. Anders ging es auch nicht, denn die Tänzer*innen trainierten fünfmal die Woche. Und wir reden hier nicht nur von einer Stunde Training täglich. Dazu kamen noch diverse Showauftritte. Vor Meisterschaften wurde das Pensum noch mal hochgeschraubt. Dann hieß es Trainingslager mit noch mehr Stunden Training.

Perfektion von der Sohle bis zu den Haarspitzen

Einmal durfte ich Mäuschen sein und still von der Bank aus zuschauen. Puh! Das wirkte pedantisch. Eine kurze Schrittfolge wurde ein ums andere Mal wiederholt. Was hatte Horst Beer nur auszusetzen? Für mich sah das Ganze perfekt aus. Aber nein, hier war eine Drehung eine Millisekunde zu spät, dort war die Linie der Tänzer*innen nicht auf den Millimeter genau gerade und da ein Arm einen Zentimeter zu tief oder ein Kopf nicht in der korrekten Haltung. Ich konnte es kaum glauben. Wieviele Details hatte Horst Beer auf einmal im Blick? Wie gelingt es, dass sechszehn Personen, die sich in Geschlecht und Größe unterscheiden, als Einheit wirken? Ich weiß es nicht! Aber es gelang.

Tanzlehrer Horst Beer korrigiert Tänzer beim Training (c) Lothar Scheschonka
Blick ins Archiv: Auf jede Kleinigkeit kommt es an – Horst Beer mit den Tänzern beim Training (c) Lothar Scheschonka

Die Latein-Formation als Familie

Dieser Sport fordert nicht nur einen extrem hohen Einsatz, sondern schweißt auch ungemein zusammen. Kein Wunder, wenn man fast täglich so viele Stunden miteinander verbringt. Das merkte auch jeder Außenstehende. Wann immer ich mit Sylvia zusammen Latein-Formationsmitgliedern begegnet bin, war das enge Band zu spüren. Eine fest eingeschworene Gemeinschaft, die neben dem harten Training aber immer auch für jeden Spaß zu haben waren.

Horst Beer mit Tänzerinnen der Formation (c) Lothar Scheschonka
Blick ins Archiv: Jede Haltung muss perfekt sitzen. Horst Beer mit der Formation beim Trainging (c) Lothar Scheschonka

Schillernd, aber den Richtlinien entsprechend

Sicher habt ihr auch schon mal die prächtigen Kleider und Anzüge der Tänzer*innen betrachtet. Sie scheinen von Jahr zu Jahr ausgefallener und schöner zu werden. Und das, obwohl es strenge Regularien für die Turnierkleidung gibt. Aber da steckt auch eine Menge Arbeit drin. Zwar sollen die Kleider der Tänzerinnen immer extravaganter und spektakulärer sein, aber sie müssen gleichzeitig auch „tanzbar“ bleiben. Ein zu schwerer Rock oder abstehende Applikationen sind hinterlich bei den Drehungen oder verhindern den sicheren Griff des Partners.

Was für eine Si­sy­phusarbeit

Außerdem bekommen die Tänzerinnen nur das „Rohkleid“. Hunderte von Pailetten müssen sie selbst aufbringen. Was für eine Arbeit! Da Tänzer*innen stets zielorientiert denken, wurde ich von Sylvia für diese Arbeiten gleich mit eingespannt. Für unsere Abschlussprüfung büffelnd saßen wir in ihrer Küche, warfen Blicke in die Bücher und Sylvia nähte gleichzeitig Pailletten an. Ich durfte derweil ihre Tanzschuhe schwarz malen und dort Pailletten aufkleben. Paillette um Paillette um Paillette…. es schien kein Ende zu nehmen.

Dieser Teamgeist steckt an

Und so wurde ich „infiziert“. Ich sah, dass hinter dieser anmutigenden, dynamischen Darbietung harte Arbeit, Schweiß und Tränen steckte. Ein ums andere Mal quälten Sylvia heftige Rückenschmerzen. Aufhören oder eine Pause einlegen? Auf keinen Fall! Zähne zusammenbeißen, lächeln, weitermachen, lautete die Devise! Endlich wollte ich die komplette Formation einmal auf dem Parkett sehen und mitfiebern. Zur Weltmeisterschaft 1987 in Oslo war es dann soweit. Die Tänzer*innen waren natürlich schon dort, als wir mit den Fanbussen anreisten. Die Stimmung war aufgeladen.

Horst Beer spricht in der Kabine zu den Tänzerinnen und Tänzern der Formation (c) Lothar Scheschonka
1992: Mentale Vorbereitung in der Kabine auf der Deutschen Meisterschaft (c) Lothar Scheschonka

Sechs Minuten voller Anspannung

Wir eroberten wir unsere Plätze. Mit dabei: leere Getränkedosen, die mit getrockneten Erbsen gefüllt waren. Ein wahrer Krach- und Stimmungsmacher zum Anfeuern „unserer“ TSG. Die Atmosphäre war einnehmend. Alle Zuschauer starten gebannt auf das Parkett und musterten die einlaufenden Formationen mit Argusaugen. Und auch wenn der Tanzen eine sehr faire Sportart ist, hofften die Fans, dass den anderen Formationen Fehler unterliefen. „Ha, war die gegnerische Mannschaft da nicht aus dem Takt? Stimmte die Linie tatsächlich exakt? Hingen die äußeren Tänzer*innen nicht etwas nach?“. So kreisten meine und die Gedanken der anderen Fans bei den jeweils sechsminütigen Darbietungen.

Tänzerinnen und Tänzer stimmen sich hinter den Kulissen auf ihren Auftritt ein (c) Lothar Scheschonka
Die TSG-Formation stimmt sich auf ihren Auftritt bei der Weltmeisterschaft 2007 ein (c) Lothar Scheschonka

Als die TSG auf dem Parkett war, vergaß ich fast, Luft zu holen, so groß war die Anspannung. Wir wollten jubeln, rasseln, toben. Sylvia hatte mir aber auch erzählt, dass der Jubel von den Rängen später unten auf dem Parkett ankommt und nicht mehr zum Takt der Musik passt, was natürlich schwer für die Tänzer ist. Andererseits brauchen die Tänzer*innen diese Anfeuerung aber auch wie die Luft zu atmen. Also Jubeln und Rasseln oder nicht? Aber dann riss es uns bei der feurigen Musik und der packenden Darbietung auch schon von den Stühlen und wir feuerten unsere Mannschaft an. Den Wettkampf bis zum Ende zu verfolgen, fiel mir unendlich schwer. Wie würden die nachfolgenden Mannschaften auftreten? Wie würden die Wertungen der Kampfrichter*innen ausfallen? Quälendes Warten war angesagt.

Die Formation der TSG auf dem Parkett (c) Lothar Scheschonka
Die TSG beisterst auch 1989 bei der Weltmeisterschaft in Stuttgart (c) Lothar Scheschonka

Freudentränen der Weltmeister

Und dann war es endlich soweit! Alle Formationen standen rund um die Tanzfläche und blickten mit angespannten Minen zu den Kampfrichter*innen. Die Zuschauer hielten die Luft an. Es war mucksmäuschen still in der Halle und kaum auszuhalten. Nach jeder Wertung sahen wir die jeweiligen Formation entweder erleichtert jubeln oder sich weinend in die Arme fallen. Unglaublich, welcher Druck seinen Lauf nehmen konnte. Und dann endlich kam die Wertung der TSG Bremerhaven … Gewonnen! Sie waren Weltmeister! WELTMEISTER! Unglaublich! Ich konnte es nicht fassen.

Jubelnde Tänzer*innen bei der Weltmeisterschaft (c) Lothar Scheschonka
Weltmeister! Der Jubel kennt keine Grenzen (c) Lothar Scheschonka

Verdienter Sieg für die TSG Bremerhaven

Ich stürmte die Tribüne herunter, kämpfte mich durch das Gewühl und stürmte auf Sylvia zu. Ich wollte vor lauter Freude im Kreis hüpfen und ihr in die Arme fallen. Und dann … blieb ich wie vom Donner gerührt stehen. Da stand sie über das ganze Gesicht strahlend vor mir. Allerdings lief ihr der Schweiß in Strömen und das Make-up war von den Freudentränen völlig aufgelöst und hinterließ Farbspuren auf ihren Wangen. Kein einladener Anblick, aber das war jetzt nebensächlich. Wir fielen uns jubelnd und lachend in die Arme. Ich war so stolz auf ihre und natürlich die Leistung der Formation, der Trainer und Betreuer, dass ich hätte platzen können! Ein unvergessliches, tolles Erlebnis!

Die höchste Auszeichnung

Als wenn das alles nicht schon genug wäre, wurde Sylvia auch noch mit dem silbernen Loerbeerblatt ausgezeichnet. Es handelt sich dabei um die höchste sportliche Auszeichnung Deutschlands. Verliehen wurde es ihr für den dreimaligen Weltmeistertitel der TSG-Formation. Mehr geht nicht!

Perfektion hört nie auf

Dies ist nur ein kurzer Einblick in die scheinbar unendlichen Erfolge der TSG. Wir Zusehenden erleben sechszehn Tänzer*innen auf dem Parkett. Unablässig für einen Erfolg sind neben Trainer*innen aber auch Sportwarte, Pysiotherapeuten*innen, Pressesprecher*innen, Schriftführer*innen, Wertungsrichter*innen und natürlich auch die Famlien der Tänzer*innen. Bremerhaven ist stolze Heimat der TSG Bremerhaven und gratuliert allen ehemaligen und aktiven Tänzer*innen sowie dem kompletten Team zu 50 Jahren Erfolgsgeschichte.

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Tanja mit ausgebreiteten Armen vor der Weser
Tanja Albert

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